älterer Mann steht vor Gebäude

Wissenschaftsbotschafter Prof. Hans Joachim Schellnhuber

Hans Joachim Schellnhuber war bis September 2018 Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), seit er das Institut im Jahr 1992 gegründet hat.

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Prof. Hans Joachim Schellnhuber im Gespräch mit Thomas Prinzler | rbb Inforadio

Prof. Schellnhuber, als Systemforscher betrachten Sie die Erde, das Klimasystem als Ganzes. Von Ihnen wird immer wieder auf so genannte Kipp-Punkte, im Englischen:Tipping Points, hingewiesen, wo etwas bei der Klimaveränderung massiv umschlagen kann. Sind das Points of no return? Dann geht gar nichts mehr?

Naja, ganz so einfach ist es nicht. Wir haben hauptsächlich zwei Sorten von Reaktionen im sehr komplexen Umwelt-Gefüge.
Zunächst einmal solche, die wir als linear bezeichnen. Sie haben gleichsam einen stufenlosen Schalter - den bewegen wir, und daraufhin reagiert zumindest ein Teil des Systems. Und wenn wir den Schalter zurückführen, dann gehorcht das System freudig und kehrt wieder in den Ausgangszustand zurück.

Aber bei den Kipp-Elementen ist genau das anders. Wenn man ein solches System unter Druck setzt, dann braucht es in einem bestimmten kritischen Punkt nur noch eine kleine zusätzliche Veränderung, ein Antippen, und es kippt weg. Dann kann man es nicht mit einem ähnlich leichten Tippen des Fingers wieder zurückbringen. Man kann sich das bildlich vielleicht ganz gut vorstellen: Wenn ein schwerer Balken fast im Gleichgewicht ist, und man lässt diesen Balken dann mit einem kleinen Fingerstuppsen in eine stabile Lage kippen, nämlich nach unten auf der rechten Seite, und man versucht ihn dann mit dem gleichen Kraftaufwand wieder zurückzubringen, dann wird die Schwerkraft einen daran hindern. So ähnlich ist das, wenn zum Beispiel der grönländische Eisschild nahezu unaufhaltsam abzuschmelzen beginnt. Nur dass hier selbstverstärkende Prozesse hinzukommen. Dieser Eispanzer ist ja teils kilometerdick, seine Oberfläche befindet sich also in recht großer Höhe, und in großen Höhen ist es kalt. Schmilzt hier was weg, so sinkt die Oberfläche in niedrigere Gefilde, wo es wärmer ist – was das Schmelzen wiederum verstärkt.

Wegen solcher Prozesse und den damit verbundenen Risiken gibt es die Leitplanke von maximal zwei Grad Temperaturerhöhung. Das ist eine politische Zielmarke, aber mit dem wissenschaftlichen Hintergrund, dass unterhalb der zwei Grad wir wahrscheinlich wenige der wichtigen Kipp-Punkte im Klimasystem überschreiten, sie sich jenseits der zwei Grad aber häufen. Dass jenseits dieser zwei Grad dann viele solcher Kipp-Vorgänge passieren werden, das versucht die Wissenschaft jetzt immer deutlicher aufzuzeigen. Und das Bild sieht nicht besonders hoffnungsfroh aus.

Dann zeichnen Sie doch mal dieses nicht sehr hoffnungsfrohe Bild. Welche Kipp-Punkte sind es, die uns ins Bewusstsein gesetzt werden müssen?

Über Grönland habe ich schon gesprochen. Leider ist es hier so, dass einer neuen Studie aus unserem Haus zufolge sogar schon bei 1,6 Grad globaler Erwärmung das große Schmelzen beginnen könnte. Ein zweites Beispiel: Das PIK hat gezeigt, dass bei nur einer Erwärmung von 1,5 Grad Celsius etwa 90 Prozent aller Korallenriffe verloren gehen könnten. Und zwar durch eine Kombination aus Erwärmung des Meeres, Anstieg des Meeresspiegels und Versauerung des Ozeanwassers. Sie können sich auch die großen Gletschersysteme anschauen, die sicherlich schmelzen werden.

Das ist etwa so, als wenn Sie den menschlichen Körper betrachten. Zwei Grad hört sich ja nach ganz wenig an. Aber zwei Grad stehen in diesem Fall für die Gleichgewichtskörpertemperatur der Erde. Wenn Sie die um zwei Grad erhöhen, ist das so, als wenn Sie die Körpertemperatur des Menschen um zwei Grad erhöhen. Und das bedeutet richtiges Fieber. Fünf Grad mehr heißt Tod. Ich behaupte natürlich nicht, dass die Erde tot ist, wenn wir eine Erwärmung von fünf Grad haben. Aber es dürfte eine dramatische Veränderung sein. Unsere Zivilisation ist hoch vernetzt und stark verwundbar. In der Frühzeit der Menschheit konnten Stammesgruppen Veränderungen ausweichen, indem sie weiterzogen. Heute stehen Millionenstädte mit Milliardenwerten an den Küsten, wo der Meeresspiegel steigt. Und Extremwetter-Ereignisse in immer engerer Folge könnten die weltweiten Zulieferketten der just-in-time Produktion empfindlich stören.

Die Indizienaufnahme ist abgeschlossen. Der Täter ist identifiziert!“, haben Sie gesagt. Und nun? Was ist zu tun? Haben Sie einen Masterplan zur Rettung der Welt?

Vernunft ist immer ein guter Maßstab, würde ich sagen. Das kann man rationales Denken nennen, oder gesunden Menschenverstand. Ob die Vernunft sich durchsetzt ist eine andere Frage. Im Prinzip kann Vernunft und Phantasie und Kreativität eine ganze Menge erreichen. Ich glaube allerdings nicht an den einen allumfassenden Masterplan, der für alle Nationen dann die richtigen Marschanweisungen liefern könnte. Allein schon weil wir uns international nicht verständigen werden. Insofern ist es so, dass wahrscheinlich eher Vorbilder – etwa die deutsche Energiewende - eine Chance haben, wirklich wirksam zu werden.

Sie sind einer der international renommiertesten Klimaforscher, Mitglied im Weltklimarat, IPCC, der Träger des Friedensnobelpreises ist. Sie leiten das PIK seit über 20 Jahren. Haben Sie nie darüber nachgedacht vom Telegrafenberg wegzugehen?

Ich war ja zwischendurch im Ausland und hatte meinen Lebensschwerpunkt für vier Jahre (2001-2005) in Großbritannien, als ich das Tyndall Centre for Climate Change Research aufgebaut habe. Derzeit habe ich parallel eine Professur am Santa Fe Institute in New Mexico, USA. Aber es stimmt, im Wesentlichen bin ich dem Telegrafenberg treu geblieben. Warum?

Dazu ein bißchen geschichtlicher Hintergrund. Nach der Wiedervereinigung wurde - ziemlich hastig und nicht immer glücklich - über die völlige Neustrukturierung der Wissenschaftslandschaft im Osten Deutschlands nachgedacht. Ich bin 1991 darauf hingewiesen worden, dass man ein neues Institut zum Thema „Klimafolgenforschung“ schaffen und eventuell auf dem Telegrafenberg in Potsdam ansiedeln könnte. Ich kam dann hierher und habe mir das grandiose Gelände angesehen. Es war ein nebliger Tag - ich kann mich noch genau erinnern. Da hing die Luft noch voller Braunkohle- und Trabbidünste. Und trotzdem, von dem, was ich sah, so heruntergekommen die Gebäude auch waren - ich hatte sofort das Gefühl, wenn du in Deutschland an einem Platz längere Zeit arbeiten willst, dann nur hier auf dem Telegrafenberg! Was gibt es für ein größeres Privileg als da tätig zu sein, wo die deutsche Forschung absolutes Weltniveau erreicht und über viele Jahrzehnte gehalten hat.

Zudem ist hier auf dem Berg ein einmaliges Ensemble entstanden ist, eine auch international außergewöhnliche Kollektion von Forschern und Forschungs-Einrichtungen, die über die Zukunft der Erde nachdenken. Im Institut selbst haben wir inzwischen über 300 Beschäftigte, plus 100 Gastwissenschaftler pro Jahr, und es gibt eine Zusammenarbeit mit den anderen Instituten auf dem Berg: dem Geoforschungszentrum, GFZ, dem Astrophysikalischen Institut, AIP, dem Alfred-Wegener-Institut, AWI.

Deshalb müsste ich für einen Ortswechsel schon eine ganz starke Alternative geboten bekommen. Es gab diverse Angebote, aber keines war bisher stark genug, mich wegzulocken. Und jetzt werde ich die letzten 30 Jahre meines Forscherlebens wohl auch noch hier zubringen können.

Sie sind, Herr Schellnhuber, Wissenschaftsbotschafter des Landes Brandenburg, sehr viel in der Welt unterwegs. Was sagen Sie der Welt zum Wissenschafts- und Technologiestandort Brandenburg?

Es gibt da eine weltweit singuläre Situation. Brandenburg lag ja bis 1989 wie ein Ring um das geteilte Berlin herum, wie ein Halsband. Und jetzt ist das Land zwar noch nicht politisch, aber doch weitgehend kulturell und zivilisatorisch wiedervereinigt mit Berlin. Diese gesamte Region ist etwas Außerordentliches. Jetzt könnte ich natürlich über die üblichen Dinge sprechen, die Dichte der Forschungseinrichtungen und so weiter. Wichtiger ist aber vielleicht:

Vor allem nach der Wiedervereinigung gab es hier die Chance, Dinge zu tun, die man üblicherweise nicht tun kann, weil man in erfolgreicher Routine erstarrt ist. Das ist man hier – noch - nicht. Man tut manches vielleicht noch ziemlich unperfekt, aber es gibt die Chance, große Potentiale auszuschöpfen. Und das ist natürlich eine großartige Sache. Ich denke, dass Brandenburg auch unter der Regierung von Ministerpräsident Matthias Platzeck sicherlich ein Bundesland ist, das der Forschung, der Innovation sehr zugetan ist. Es könnte einen großen Anteil haben bei der deutschen Energiewende, beim Übergang zu einem wirklich nachhaltigen Energiesystem. Ich habe mal vom „Innovationslabor Brandenburg“ gesprochen.

Welche Zukunftsvisionen haben Sie? Szenarien gehen in der Regel bis 2100. Das werden wir beide nicht mehr erleben. Aber sind wir Menschen auf dem Planeten zu halten?

Ja, natürlich! Das ist zwar keine Vision, eher ein Wunsch. Aber Sie wissen ja, wie oft der Wunsch Vater des Gedankens ist. Und es könnte auch der Gedanke Vater des Wunsches sein. Ich meine, wenn man sich eine Zukunft wünscht - weil man weiß, dass sie „richtig“ wäre -, so wird sie kaum in der gewünschten Form eintreten. Aber man wird vielleicht selbst dazu beitragen, dass die reale Zukunft nicht so weit vom Desiderat entfernt sein wird, als wenn ich eben den Dingen ihren Lauf lasse.

Ich denke, wir haben alle Möglichkeiten - technisch, ökonomisch, auch institutionell in einer funktionierenden Demokratie - uns selbst so zu bewegen, zu transformieren, dass eben nicht nur unsere Generation in Wohlstand leben kann. Sondern auch die Generationen, die nach dem Jahr 2100 geboren werden. Und da spricht wirklich der Physiker in mir, denn wenn wir zum Beispiel über Erneuerbare Energien oder Ressourcenverbrauch sprechen, dann machen wir zunächst eine Analyse. Und alle diese Analysen zeigen: Ja, es ist relativ leicht, das zu schaffen. Was man braucht ist letztendlich den gesellschaftlichen Willen zu organisieren, um diese Potentiale zu heben. Und ob das gelingen wird, das kann ein Physiker natürlich nicht vorhersagen. Aber ich weiß zumindest, dass es möglich ist.